Alexander Kluy liest Helwig Brunners abdruck in weicher masse
Als vor acht Jahren Helwig Brunners Journal der Bilder und Einbildungen erschien, waren es keine kleinen Namen, die der Grazer darin bemühte und aufrief. Es tauchten Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer und Friedrich Hebbel auf, Immanuel Kant und Elias Canetti, der Schweizer Paul Nizon und George Orwell, die rumäniendeutsche Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und der hierzulande unbekannte US-Amerikaner Forrest Gander, Peter Handke, der tschechische Poet Jan Skácel und der englische Viktorianer Samuel Butler, der gewaltige „Notebooks“ führte, die bis heute nicht in einer editorisch angemessenen Form vorliegen.

Streng angelegt war dieses Unterfangen, Welt in Sprache und Schrift zu überführen: eingeteilt in 15 Kapitel, filmisch „Schnitte“ betitelt, plus Aufblende und Abspann und insgesamt 237 durchnummerierten Einträgen, die unterschiedlich lang waren, von einer Zeile reichend bis zu maximal einer Buchseite.
Cover © Limbus Lyrik
Es waren in dieser Lektüre-Denk-Suchbewegung intensive Landschafts- und Tierbeschreibungen, Reflexionen über Sprache und Kommunikation, Wortspiele sowie Kindheitserinnerungen, Umkreisungen dessen, was „Ich“ genannt wird, Reiseimpressionen, Betrachtungen über Kreativität, die Künste und das Unterfangen, Welt in Sprache und Schrift zu überführen.
Figuren und Blöcke
Auch abdruck in weicher masse ist einerseits hochbewusst arrangiert. Andererseits öffnet Brunner Türen, macht seine scheinbar nur festgefugte Lyrik durchlässig, indem er neuerlich Figuren der Weltliteratur zitiert. So heißt es an einer Stelle:
als ich fernando pessoas buch der unruhe aufschlug, stand da an erstbester stelle, jeder von uns lebe ein erfundenes, fremdes leben (wie schon bei oscar wilde: die meisten leute sind andere leute, bei rimbaud: ich ist ein anderer)
Der studierte Musiker (Instrument: die Geige) und promovierte Biologe, hauptberuflich tätig im eigenen ökologischen Planungsbüro, ist nebenberuflich literarisch rege wie hochproduktiv. Er hat seit 1991 19 Bände publiziert – abdruck in weicher masse ist nun der zwanzigste –, zu Anthologien beigetragen, für den Rundfunk geschrieben, er gibt eine Lyrikreihe heraus und die Literaturzeitschrift „Lichtungen“. In neun Sprachen sind seine Poeme bisher übersetzt worden.
Lyrischer Imagismus ist Brunners Sache nicht. Auch nicht reduzierte Kürze. Noch das Beschränken auf eine allegorische Konstellation, ein Bild, eine lyrische Situation. Er setzt vielmehr ausgreifende Wort-Blöcke auf die Seite. In diesen in sich fluiden, da verzweigenden Text-Findlingen, deren Textur vor allem beim lauten Lesen gar nicht mehr so prosanah klingt, wie sie im Druck erscheinen, flicht er in ausgreifendem Rhythmus weit ausgreifende Fragen ein:
sind windstöße schriftzüge? schläfenwärts im blinden fleck: all die dinge menschen tiere.
An anderer Stelle liest man dies Fluide, das das Verharren, das Bleiben und Überleben im Titel reflektorisch aufnimmt:
du hast recht, aber nie bleibe ich der ich war, so einfach ist es nicht: immer ist ich ein anderer, nie sind wir genug, nie wäre ich, wenn ich auch können wollte wollen könnte, ganz der ich bin.
Bedingungen und Durchmischung
Thomas Ballhausen, Autor und interdisziplinär interessierter Medienwissenschaftler, der inzwischen eine Hochschulprofessur für Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Wien bekleidet, nennt in seinem anspruchsvollen Nachwort Brunners intellektuell epischen, oft genug elektrisierenden Lyrik-Gezeiten-Strom „Sets von Bedingungen anstelle von Dichotomien“. Zu Recht weist er daraufhin, dass so wie er, Ballhausen, auch der Grazer zwischen konkret angesehener, erlebter, erfühlter Welt und abstrahierender Wissenschaft oszilliere und dass Brunners Lyrik „vom Prosapoem ebenso geformt“ sei wie „vom Gedicht, das den vorsätzlich gesetzten Zeilensprung kennt“.
Das zweite Gedicht in der vierten, titelgebenden Sektion ist hierfür ein Exempel. Es setzt nahezu alltäglich ein und schwingt sich binnen weniger Worte, ganz à la später Gottfried Benn, vom Profanen hoch zu esoterischen Abstrakta:
„er verliebe sich täglich neu, sagt er, allem anschein nach in die landschaft vor dem fenster, die sich vielgestaltig autochthon wie neophytisch ihm zeige.
Das Signalwort lautet hier dann gleich: „durchmischungsgrad der elemente“, mit der recht essenziellen Ergänzung „natürlicher & devastierter“.
Diese Lyrik ist so belesen wie gelehrt, sich ihrer bewusst sowie der Referenzen, auf die Brunner mal offen, mal mehr oder weniger verdeckt Bezug nimmt. Auf Seite 87 entdeckt man eine Liste, die von Gaston Bachelard bis Alfred Kolleritsch, Elke Laznia und Christoph Ransmayr reicht und auch Michael Hamburger nennt, Srecko Kosovel und Uwe Kolbe.
Mit verbaler Raffinesse zieht Brunner starke Figuren durch den Wort-Raum von Vergänglichkeit und Verharren, von Bleiben durch Benennen und dem Verwehen ob Vergänglichkeit, „allmählich öffnen sich die räume, wie immer zu / ende eines spiels.“ Ebendieses Spiel beherrscht er mit großer Souveränität und mit ebensolchem Esprit:
„wie jedes buch teilt auch dieses mit seinem strengen scheitel das meer der menschheit: manche lesen es, andere lassen, wie jedes buch findet auch dieses die zustimmung mancher die gleichgültigkeit vieler.
Helwig Brunner: abdruck in weicher masse . Limbus, Innsbruck, 2025. 96 Seiten, Euro 15,–

