Nicole Streitler-Kastberger liest Sophie Reyers Leerstellenkind

Sophie Reyer, geb. 1984 in Wien, ist ein Tausendsassa. Sie schreibt und schreibt und publiziert und publiziert: sechs Bücher allein 2024. In ihrem 2025 erschienenen Gedichtband Leerstellenkind, der für einen Gedichtband mit über 200 Seiten sehr dick ist, findet sie eine durchaus innovative Form. Statt mit einem Titel beginnt jedes Gedicht mit einem Doppelpunkt.
Cover © Sisyphus
Was das zu bedeuten hat, bleibt zwar rätselhaft, aber es wirkt modern. Die Gedichte selbst folgen dann alle einem ähnlichen Muster. Oft wird der erste Vers am Schluss wiederholt. Meist sind es kurze Verse, die sich über mehrere Zeilen und sogar Strophen ziehen. Enjambements, wohin man schaut.
Der Tod und andere Enden
Das ist natürlich für Gegenwartslyrik nichts Ungewöhnliches, und doch soll es hier angemerkt werden. Inhaltlich kreisen die Gedichte um Liminales, das Leben und den Tod. Das ist für eine gerade mal Vierzigjährige ungewöhnlich. So viel Abgebrühtheit dem Sterben gegenüber ist überdies selten:
(…) mein Ich nur eine Spielfigur in die das Leben Muster eingraviert wie Wellen über die Jahrtausende in einen Stein um sie dann wegzuwerfen (…) Oder auch im folgenden Gedicht: : vom Tod kann man nicht geheilt werden seine Reißzähne sind scharf er ist das sanfteste Tier zwischen uns nur ein Gitter aus Papier
Vom Schreiben schreiben: Aphoristisches
Mit dem Hinweis auf das Papier ist eine weitere Bedeutungsebene geöffnet: Das Schreiben und die Sprache – naheliegend für eine Lyrikerin – werden immer wieder thematisiert: „du denkst dir / deine eigene Sprache aus“, heißt es da, oder: „Ich war / eine Gefangene // meine Worte / machten mich frei“. Oder: „Ich habe / nichts // nur manchmal / ein Gedicht“. Was überrascht, ist die Tatsache, dass Reyer kaum mit der Sprache spielt. Die Sprache ihrer Gedichte ist alltagssprachlich, nicht gesucht, selten ein Wort wie „glitzernd“. Manchmal gelingt fast ein Aphorismus, wie etwa in dem folgenden Gedicht:
: Im Leben wird einem nichts geschenkt nur das Leben
Das ist pointiert. Und nicht ohne Witz. Aber der Witz bleibt einem gewissermaßen im Hals stecken. Immer wieder gelingen Reyer solche aphoristischen Sentenzen. Sie stecken in dem Gedichtband, der streng durchkomponiert ist, wie die Rosinen in einem Kuchen.
Ausblicke: die Kindheit, die Natur
Wenn etwas aus der tristen Gestimmtheit hinausführen kann, sind es Betrachtungen über die Kindheit oder Naturbilder. „In meinen Träumen / habe ich Boote // am Meer / und ein eigenes / Dach an der Sonne“, heißt es da etwa in einem mit „Kindheit“ gewissermaßen betitelten Gedicht. An anderer Stelle imaginiert sich das lyrische Ich als Baum, zu dem es geworden ist, eine Art „Daphne“ wie in Ovids Metamorphosen. Sehr schön, wenn auch etwas abgenutzt, das folgende Bild: „Als die Sonne / der Kindheit unterging // probierte ich / meine Flügel aus“.
Die Metapher der Flügel kommt wiederholt vor, immer wieder wachsen dem lyrischen Ich oder anderen Subjekten Flügel: „Und meine Seele spannte / weit ihre Flügel aus / flog durch die stillen Lande / als flöge sie nach Haus“, heißt es in Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“ aus dem Jahr 1835. Reyers Band ist allerdings eher in der Nachfolge der existentialistischen Lyrik einer Else Lasker-Schüler oder Nelly Sachs zu sehen. Es ist durchaus heutige Lyrik. Gelegentlich gelingt ihr ein besonders moderner Twist, und sei es nur, dass sich ein Wort wie „Leerstellenkind“ in Titel und titelgebendes Gedicht verirrt: „Immer / sprachen andere / für mich bevor ich / sprechen konnte“.
Sophie Reyer: Leerstellenkind. Gedichte. Klagenfurt, Sisyphus, 2025, 226 Seiten, € 14,80.
 
		 
			
 
			