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Lyrikempfehlungen 2025/26

Lyrikempfehlungen 2025/26

Die Rezensent*innen der Poesiegalerie empfehlen:

  • Mehrzad Hamzelo/Rudolf Kraus: mit zwei zungen
  • Christian Steinbacher: Hoch die Ärmel
  • Verena Stauffer: Kiki Beach
  • Patricia Mathes: im grunde sprichst du schon
  • Kholoud Charaf: Mit all meinen Gesichtern
  • Siljarosa Schletterer: entschämungen. körperkantate
  • Semier Insayif: vom auf horchen und zu fallen
  • Dagmar Leupold: Small Talk
  • Waltraud Seidlhofer: stille flaneure
  • Andreas Unterweger: Haus ohne Türen
  • Helwig Brunner: abdruck in weicher masse
  • Hannah K Bründl: schilfern

Mehrzad Hamzelo/Rudolf Kraus: mit zwei zungen. 

deutsch & farsi. edition fabrik.transit 2025. 152 Seiten. € 19,–

Der Band ist ein Gesamtkunstwerk, besteht er doch nicht nur aus Gedichten auf Deutsch und Farsi (Persisch), sondern beinhaltet auch farbig abgedruckte „Sprachskulpturen“. Dabei handelt es sich um kunstvolle Anordnungen von Buchstaben des persischen Alphabets, die in verschiedenen Winkeln geneigt und unterschiedlich groß platziert sind, wodurch sie zu grafischen Elementen werden, mitein- ander in Beziehung treten und neue Zusammenhänge schaffen können. Ein leichtfüßiges, geradezu schwereloses Buch voller Gedichte, die oft aus wenigen, dafür umso sorgsamer platzierten Wörtern bestehen. Die weitgehend reimlos bleibenden Gedichte lassen alles Überflüssige weg, erinnern oft an leicht in die Länge gezogene Haiku. Hamzelo und Kraus ist damit ein lyrischer Brückenschlag
gelungen, der dazu einlädt, sich in andere Sprachwelten zu begeben und die Schönheit zunächst fremdartiger Zeichen neugierig zu deuten.

Lukas Meschik

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Christian Steinbacher: Hoch die Ärmel

Czernin, Wien, 2025. 168 Seiten. € 22,–

Nach der Lektüre wird einem leicht schwindlig sein, so umfassend sind die Auslotungen der Möglichkeiten von Lyrik, so zahlreich die Bezüge und auch so üppig der Umfang. Hier dichtet ein Munterer, der sich eine kindliche Verspieltheit erhalten hat, dabei aus dem Fundus des Kenners und Verstehers der Klassiker schöpft. Steinbacher beherrscht antike Metrik, trumpft mit seinem Wissen aber niemals auf, sondern schüttelt alles präzise aus dem Ärmel. Dass er mit jedweder freien oder strengen Form so unverkrampft umgehen kann, ist nur Beweis seiner stillen Meisterschaft. Sein Ton behält dabei eine ironische Distanz, die einen nie emotional erpresst. Steinbacher nutzt sein Werk als heiteren Spielplatz, auf dem er auslotet, was Lyrik kann. Jeder der neun Teile hat einen leicht anderen Ton, eine
andere Bildsprache und folgt einer anderen Logik. Und zeigt einmal mehr das Gespür des Autors für gehobenen Blödsinn, der erst nach und nach seine tieferen Schichten freilegt.

Lukas Meschik

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Verena Stauffer: Kiki Beach

kookbooks, Berlin, 2024. 72 Seiten. € 25,95

Liebesgedichte. Gott, wie altmodisch! Ja, geht das denn noch? Und wie! Bei Verena Stauffer ist es nachzulesen. Ihr Band besteht aus sieben Zyklen und 37 Poemen. Davon sind einige auf Englisch geschrieben. Auf einer Vorsatz-Seite umkreist sie, was folgen wird. „In diesem Raum existiert Liebe“, heißt es programmatisch. Auch deren Gegenteil wird evoziert, aufgerufen, abwehrend beschworen, der Tod. „Es gibt keine Trauer. Es gibt kein Ende“. Es geht um Sinnlichkeit und sinnliches Erfahren. Um Sehnen und Metamorphose, um ersehntes Morphen. Es geht um Bewegung und Beweglichkeit. Dabei fällt rasch eines auf – die Verse sind nicht gebrochen, sie laufen nicht um. Ein solches Enjambement verbietet sich Stauffer. Stattdessen setzt sie Blöcke aufs Papier. Sie orientiert sich also am Sinngehalt
ihrer Sätze. Kunstvoll verschränken sich im Tonfall unterschiedlich gehaltene Passagen. Aphrodisiakisch, zeitgenössisch durchwirkt und anspielungsreich.

Alexander Kluy

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Patricia Mathes: im grunde sprichst du schon

edition keiper, Graz, 2025. 184 Seiten. € 16,95

Woraus Gedichte gemacht sind, das nimmt Patricia Mathes wörtlich. Sie umkreist Worte, sie belauert klug wie sensitiv den Gebrauch von Sprache, ihre Verwendung, ihre Verwundungen, ihre Kehren und Umkehrungen. Sie schreibt nicht gegen Regelhaftigkeit an. Sie schreibt für – für sich, für neue Regeln, für uns. Dort, wo gesprochen wird, muss es um Beziehungen gehen, um die Beziehung von Natur und Umwelt, von Menschen zu Menschen. Es geht um Menschliches und es geht um menschliche Existenz Auslöschendes, den Tod. Doch weit entfernt von formal marmornem Erstarren sind Mathes’ Gedichte. Sie sind stattdessen luft- wie lustvoll artistisch-akrobatisch und minuziös gefugt, ohne sich dabei einzuigeln. Mit großer verführerisch Lust führt Mathes vor, wie mit Worten zu spielen ist. Da gibt es bildstark Fast-Imagistisches, Lakonisches sowie grammatikalisch wie syntaktisch Destruiertes. Ein stupendes, ein beeindruckendes stil- wie bildsicheres Debüt.

Alexander Kluy

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Kholoud Charaf: Mit all meinen Gesichtern

Klever, Wien, 2024. 170 Seiten. € 22,–

Bild- und klanggewaltig sind diese literarischen Mosaike, die die Lesenden auf eine beseelte Reise in traum- und märchenhafte Landschaften schicken. Das erste, von Kerstin Wilsch aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzte Buch der aus dem südlichen Teil Syriens stammenden Autorin und Menschenrechtsaktivistin enthält neben längeren Gedichten auch weniger symbolisch aufgeladene Texte in Kürzestform. Am Ende steht ein Dutzend Prosaminiaturen, deren sprachliches Gewebe stark verdichtet ist. Die Kindheit, das Zusammenleben im Dorf, „wo der Lehm wie Kaffee schmilzt“, die Erzählungen der Ahnen, weibliches Erwachen sowie der Krieg werden thematisiert. Etwas zutiefst Sinnliches, universal Menschliches ist diesen intimen autobiografischen Zeugnissen zu eigen, die vom Sein des Menschen zeugen und von dem Versuch erfüllt sind, diesem eine Bedeutung über den (eigenen) Tod hinaus zu geben, ohne es dabei manieriert zu überhöhen.

Evelyn Bubich

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Siljarosa Schletterer: entschämungen. körperkantate

Limbus, Innsbruck, 2025. 96 Seiten. € 15,–

Der Scientific Turn des 21. Jahrhunderts macht auch vor der Dichtung keinen Halt. Schletterers Kranz von Liebes- bzw. Körper- Gedichten umkreist in immer neuen Anläufen den „sehnsuchtsort körper“, und dies raffiniert. Mit großer verspielter Anmut setzt sie Verschleifungen ein, Verzerrungen, Enjambements und grammatikalische Widerhaken. Anatomie und Emotionen, Verwundbarkeit und Verfügbarkeit, Verfügbarmachung und Reduktion des Weiblichen auf rein Reproduktives werden zum Thema. Aber auch Macht und Ermächtigung, Schmerz, Pein und Erinnern. In Teil II geht sie dann Anatomisches präzis wie poetisch verfremdend durch. Eine lyrisch-feministische Poetisierung der Physis in ihrer Be- und Einschränkung und im gleichzeitigen Überwinden derselben. Eine Arbeit im Bergwerk gesellschaftlich normierter Sexualmoral und peinlich beschwiegender Sexualität, aufgehoben, leicht gemacht als bemerkenswerte, ja als erstaunliche Poesie.

Alexander Kluy

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Semier Insayif: vom auf horchen und zu fallen

Klever, Wien, 2025. 148 Seiten. € 20,–

Semier Insayif gehört zu den schillerndsten Figuren der Wiener Literaturszene. Wer einen seiner ausdrucksstarken Auftritte erlebt hat, wird auch seine Gedichte nicht mehr lesen können, ohne diese mitzudenken. Sein neuer Band handelt vom Zufall und, da Insayif dazu neigt, Wörter in ihre Bestandteile zu zerlegen, auch vom Fallen. Das lyrische Ich erkundet in diesen philosophischen Gedichten sein Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Sprache. Insayif erlangt in seinen kürzesten
Gedichten die größte Meisterschaft: „nichts / ist / nur / es / selbst“ oder „jedes herz / ist / für sich / allein / ist es / nie“. Das Ungewöhnliche an diesen Gedichten liegt darin, dass man sie gar nicht zu interpretieren braucht, weil sie sich selbst offenlegen. Das gilt sogar für die darin vorkommenden Sentenzen, die doch dingfest zu machen scheinen, was Sache der Dichtung ist, und einen doch in einen Sog des Weiterdenkens und Weiterempfindens taumeln lassen, der Lust bereitet.

Kirstin Breitenfellner

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Dagmar Leupold: Small Talk

Jung & Jung, Salzburg, 2025. 128 Seiten. € 22,–

Udo Kawasser

Besprechung erscheint demnächst

See Also

Waltraud Seidlhofer: stille flaneure

Klever, Wien, 2025. 108 Seiten. € 20,–

Die poetischen Bilder Seidlhofers sind immer klar im Ausdruck und von fast technischer Präzision. Die Beschreibung ist unspezifisch, fiktional, doch bleibt die äußere Wirklichkeit, wie wir sie kennen, als Referent immer erkennbar. So bilden die Gedichte eine gleichsam abstrahierte Wirklichkeit ab, eine auf ihre Grundbausteine gebrachte Welt, deren „biegsame formen“ neu „gedacht“, neu erblickt werden können. Gerade die Absenz der titelgebenden „flaneure“ verleiht vielen Gedichten einen typisch kühlen Charakter. Doch freilich erschöpfen sich die Texte nicht in ihrem technizistischen Gestus. Poetisch sind Seidlhofers Gedichte, weil sie jenseits blicken lassen: hinter die objektivierbare Welt oder über diese hinaus. Das Denken im Konjunktiv, in der Möglichkeitsform birgt utopisches Potenzial. Sprachliche Schönheit und Leichtigkeit, dazu eine besondere Form von Zurücknahme, eine Stille, die schon im Titel
liegt.

Johannes Tröndle

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Cover "Haus ohne Türen" von Andreas Unterweger

Andreas Unterweger: Haus ohne Türen

Droschl, Graz, 2025. 128 Seiten. € 21,–

Eine Vielfalt an Stimmlagen schlägt Unterweger an, verfolgt sie weiter und beherrscht sie auch. Hier gibt es Reisepoeme, ironisch- sarkastische Miniaturen, Aphoristisches, Liebesdinge, Autobiografisches. Aber Achtung: „Wie all meine autobiografischen Gedichte / ist auch dieses hier an / jemanden gerichtet / den ich in Wahrheit nie kennengelernt habe.“ Auf dass niemand glaube, hier schreibe einer authentisch über sich und vergesse auf die Kreativität! Der Band setzt ein mit längeren Gedichten, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit als Wort-Weberschiffchen hin und her sausen. Die per se etwas abseitigen Themen (von der Gnomonik bis zur Historie der Axt) werden mit Sprachmelodie traktiert.
Idyllen gibt es hier keine. Aber das Artistische wächst symbiotisch mit Sprech-Möglichem zusammen, bis leichte, hoch geglückte wie hochbeglückende Poesie, bei der Witz sich mit tanzender Sprache aufs Luftigste verschwistert, zu lesen ist.

Alexander Kluy

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Helwig Brunner: abdruck in weicher masse

Limbus, Innsbruck, 2025. 96 Seiten. € 15,–

Der hochproduktive Autor, der studierter Musiker (Geige) und promovierter Biologe ist, legt mit dem Band in der verdienten Limbus-Lyrik-Reihe sein 20. Buch vor. Lyrischer Imagismus ist Brunners Sache nicht. Er setzt vielmehr ausgreifende Wort-Blöcke auf die Seite. In diesen verzweigenden Text-Findlingen, deren Textur vor allem beim lauten Lesen gar nicht mehr so prosanah klingt, werden
ausgreifende Fragen gestellt. Diese Lyrik ist so belesen wie gelehrt, sich ihrer bewusst sowie der Referenzen, auf die Brunner mal offen, mal mehr oder weniger verdeckt Bezug nimmt, seien es Gaston Bachelard, Alfred Kolleritsch, Elke Laznia oder Michael Hamburger. Mit verbaler Raffinesse zieht Brunner starke Figuren durch den Wort-Raum von Vergänglichkeit und Verharren, von Bleiben durch Benennen und dem Verwehen ob Vergänglichkeit: „allmählich öffnen sich die räume, wie immer zu / ende eines spiels.“

Alexander Kluy

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Hannah K Bründl: schilfern

Ritter, Klagenfurt, 2024. 88 Seiten. € 19,–

Der zweite Gedichtband Bründls ist eine Antwort der Autorin auf die Tatsache, dass „in Österreich beinahe jede dritte Frau/ ab dem Alter von 15 Jahren / von körperlicher und / oder sexualisierter Gewalt betroffen ist“. In den 61 durchnummerierten Gedichten versucht Bründl die Erblinien der Traditionen zu hinterfragen, um einen Ansatz von selbstbestimmten Sprechen zu finden: „dort / wo das sprechen entmündigte und die worte sich über uns hermachten“. Es sind tastende Gedichte, die wie im titelgebenden schilfern angedeutet, einerseits dem Prozess des „Schuppens“, des Zu-sich-Kommens des
lyrischen Ichs, aber auch dem „Abschälen“ von patriarchalen Sprech- und Denkformen nachgehen. Die höchst poetischen Gebilde sind mit Zitatsplittern von Bachmann bis Sexton durchsetzt. Szenen männlich konnotierter Gewalt und tiefer Verletztheit treffen auf das wiederkehrende Ringen um andere Formen des Lebens.

Udo Kawasser

Besprechung erscheint demnächst

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