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Flusslandschaft und Hasengeschrei

Flusslandschaft und Hasengeschrei

Martina Jakobson liest diesen Sommer einige Gedichtbände von Johannes Bobrowski, der am 2. September 1965 mit 48 Jahren starb.


Dieser Sommer ist kein Sommer, wie ich ihn im Gedächtnis habe. Es war heiß und selbst im wechselhaft-windigen Berlin, wo ich aufgewachsen bin, luden die Julitage vor den großen Ferien zur Abkühlung an die Berliner Seen ein. Wer die Sommer in der Stadt verbringt, pilgert zur Abkühlung ins sogenannte „Grüne“ (ausgesprochen das „Jrüne). Dort locken Seen und Flüsse, die ihren Ursprung der letzten Eiszeit und den Urstromtälern verdanken, mit dunkelgrünem Wasser, knorrigen Weiden, Eichen, Kiefern, Sand und Kies. Wer welchen See besucht, war unter Berlinern, seit ich denken kann, der Trennung Berlins in Ost und West geschuldet, Liepnitzsee oder Wannsee, Scharmützelsee oder Schlachtensee. Alle Seenlandschaften, ob wilder Strand oder Seebad, haben eins gemein: sie sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.

So fuhren wir für gewöhnlich in Ost-Berlin zum Müggelsee, am liebsten bis nach Friedrichshagen, im Stadtbezirk Treptow-Köpenick. Jeden Sommer stopften wir unsere Schwimmsachen in einen Stoffrucksack und stiegen in die S-Bahn bis zur Station Friedrichshagen, wo das Nordufer des Müggelsees mit seinem natürlich angelegten Strandbad für jeden zugänglich war.

In den 1980er Jahren liebte ich es, eine Freundin, die in diesem Stadtteil wohnte, zu besuchen. Sie las ebenso wie ich Gedichte und machte mich auf das Haus, in dem der Dichter Johannes Bobrowski einst wohnte, aufmerksam. Seine Lyrik und Prosa war nicht Teil des Schulkanons, sie war zu verschlüsselt und in der ideologischen Aufarbeitung des 2. Weltkrieges für Schüler in der DDR viel zu ambivalent. Und das gefiel uns besonders.

Wir nahmen uns Bobrowskis Gedichtbände Sarmatische Zeit (1961), Schattenland Ströme (1962), Im Windgesträuch, (1970), die wir im Antiquariat aufgestöbert hatten, mit zum Strandbad, anschließend spazierten wir zu Bobrowskis Haus in der Ahornallee 26.

Foto © Martina Jakobson

Der im einstigen Ostpreußen aufgewachsene Johannes Bobrowski, kam 1917 im damaligen ostpreußischen Tilsit (heute: Sowetsk) an der Memel zur Welt, seine später in Ost und West erschienen Gedichtbände begründeten seinen literarischen Ruhm, international anerkannt starb er 1965 in Berlin-Friedrichshagen.

Die Spaziergänge durch Bobrowskis Friedrichshagen wurden zu unserem Ritual: Strandbad, Lektüre, Büchertausch, Ahornallee 26, Eisessen in einem kleinen Kaffee, in der mir zu dieser Zeit pompös erscheinenden Bölschestraße, bis wir uns durch den Fall der Berliner Mauer 1989 aus den Augen verloren.

In Bobrowskis Gedichten verweilten wir an Flüssen, Seen und Strömen:

Himmel, 
die Bläue, Bogen
alt, der mit uns 
geht, den das Grün
bezaubert: Ufer der schöne
Baum, auf dem Wasser sein Schatten, 
der sich bewegt

heißt es im Gedicht „Am Fluß“ (aus: Schattenland Ströme, S. 18).

Zu den fluiden Landschaften gereihten sich eine vielfältige Pflanzen- und Tierwelt mit Fischen, Pferden, Vögeln. Und auch manch Rätselhaftes wie der Pirol aus dem programmatischen Gedicht „Kindheit“, der die ostpreußisch-litauische Landschaft aus Bobrowskis Kindertagen beschwört. Flussnamen wie Memel und deren Nebenflüsse Jūra oder die Düna wurden uns in ihren vielfältigen geographischen Bezeichnungen der baltischen und ostslawischen Sprachen im Anhang der oben angeführten Gedichtbände nur spärlich erklärt, sie erschienen uns als fremdartig, und wir verwahrten sie in unserem Gedächtnis.

Bobrowskis Landschaften haben nicht den Klang unbeschwerter Strandtage. Sie rufen eine dunkle Schönheit und schwermütige Fülle auf, lassen historische Dimensionen in ihrer Tragik erahnen, wie in „Sarmatische Ebene“:

Der Tag mit geöffneten Pulsen, Bläue –
Die Ebene singt.

Wer, 
ihr wogendes Lied,
spricht es nach, an die Küste
gebannt, ihr Lied: 
Meer, nach den Stürmen, 
ihr Lied – –

Aber
sie hören dich ja,
lauschen hinaus, die Städte,
weiß und von altem Getön
leise, an Ufern. Deine
Lüfte, ein schwerer Geruch, 
wie Sand 
auf sie zu.

Mit Sarmatien im Gedichtband Sarmatische Zeit greift Bobrowski einen alten Kulturbegriff auf, der seit der Spätantike ein ausgedehntes Gebiet zwischen den Flüssen Weichsel im Westen und Wolga im Osten sowie zwischen Ostsee und Schwarzem Meer bezeichnet, um daraus eine eigene poetische Sehnsuchtslandschaft zu erschaffen. Bobrowskis Sarmatien umfasst einen zeitlichen Rahmen von den nomadisierenden Völkerschaften bis zum Zweiten Weltkrieg sowie das „ethnisch, kulturell und konfessionell äußerst heterogene Ostpreußen, […] das Lebens-, Transitraum vieler Ethnien und Kulturen“ war (in: „Portfolio-Gedenkjahre-Bobrowski“, Johannes-Bobrowski-Gesellschaft e. V.).

Die wechselhafte Geschichte dieses Kulturraums prägte Bobrowskis Biografie. Als Stabsgefreiter einer Nachrichteneinheit der Wehrmacht war er in das Kriegsgeschehen involviert (1939 Polen, 1940 Frankreich, 1941 Sowjetunion) bis hin zur sowjetischen Kriegsgefangenschaft von 1945 bis 1949. Auf die Verarbeitung des Erlebten kommt er immer wieder zurück, schürft in den Gräben des Vergessenen und Verdrängten, verweist auf die Bitternis der historischen Schuld der Deutschen gegenüber den osteuropäischen Völkern.

Zahlreiche Gedichte nennen in den Titeln konkrete Daten und Kriegsschauplätze, „Der Ilmensee 1941“, „Kaunas 1941“ oder „Kathedrale 1941“ , darin heißt es, auf die Kathedrale von Nowgorod bezugnehmend:

„Rauch hat dir die Wände geschwärzt, deine Türen zerbrach/Feuer/…/Alles an unsrem Leben/wars getan, der Schrei/wie das Schweigen, wir sahn/ steigen über die Ebene/ weiß, dein Gesicht“, und in der letzten Strophe fortsetzend: „Zorn, eine schwere Saat./ Wie will ich rufen/ einmal/ das Aug mir noch/ hell?“

Das erregte auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Als er die Bühne der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur betrat, beeindruckte er nachhaltig, zunächst 1955 mit ersten Texten in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ durch die Vermittlung Peter Huchels, wenig später erscheinen der erste Lyrikband Sarmatische Zeit (1961) und der zweite Schattenland Ströme (1962) fast zeitgleich in beiden deutschen Staaten. Mit dem Preis der Gruppe 47 (1962) fand Bobrowski als eigene Stimme, als deutschsprachiger Dichter, wie er sich selbst explizit bezeichnete, zwischen ost- und westdeutscher Literatur, internationale Anerkennung.

In Berlin-Friedrichshagen (und in Berlin-Mitte, wo er als Lektor im Union Verlag tätig war) empfing Bobrowski zahlreiche Besucher aus dem Umkreis der Gruppe 47, wie Ingeborg Bachmann, Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger, Walter Höllerer, Walter Jens, Uwe Johnson, Franz Schonauer.

Später wandte er sich der Prosa zu, schrieb Erzählungen und Romane wie Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater (1964) und Litauische Claviere (posthum 1966).

II

Diesen Sommer, 2023, der wiederum kein gewöhnlicher Sommer ist, verbringe ich im Burgenland, in Österreich. Nicht heiße, trockene, an Dürrekatastrophen erinnernde Tage wie etwa 2022, bestimmen meinen Aufenthalt, sondern hereinbrechende Gewitter und Überschwemmungen. Ich verbringe nicht erhoffte Tage am See, gleich nebenan, vielmehr bin ich viele Stunden, ja ganze Tage und Nächte, damit befasst in Gummistiefeln durch die Wiese, die für gewöhnlich eine burgenländische Trockenwiese ist, zu waten und im Keller des alten Winzerhauses, durch dessen Lehm- und Steinwände die Himmelsfluten sprudeln, Wasser zu schöpfen.

Es ist kräftezehrend, es ist schlafraubend, aber das Wasser, das das Haus überschwemmen will, ist von erstaunlicher Klarheit, duftet nach Sand, steinigem Geröll und Wurzeln. Es spült die Worte aus Bobrowskis Gedichten heran, die ich in Schöpfpausen zur Hand nehme:

Stimme, Regen, ein Vogel –
flieg, Regenstimme, ein blauer 
Vogel – vom Donner der Berge
schallend fliegt er, mein Herz 
steht in der Wolke. 

Land, die Ebenen, Ströme, 
die Ufer voll Sand und Wälder
in der Quellen – verflogen
der Regen, mein Vogel,
ruft aus dem Wind.

Kommt, so ruft er, mit großen
Schwingen atmend, wir fliegen
lauter, umfliegen den Berg –
Blitze, fahrt, Donner, mein Herz
steht in der Wolke.
Stimme, Regen, ein Vogel –
flieg, Regenstimme, ein blauer 
Vogel – vom Donner der Berge
schallend fliegt er, mein Herz 
steht in der Wolke. 

Land, die Ebenen, Ströme, 
die Ufer voll Sand und Wälder
in der Quellen – verflogen
der Regen, mein Vogel,
ruft aus dem Wind.

Kommt, so ruft er, mit großen
Schwingen atmend, wir fliegen
lauter, umfliegen den Berg –
Blitze, fahrt, Donner, mein Herz
steht in der Wolke.


(„Wetterzeichen“, aus: Im Windgesträuch, S. 73)

Nach einigen Tagen habe ich mich arrangiert, sobald ein Gewitter angekündigt ist, die große Regenflut über den Rand der Regenrinne und durch alle ausgeschwemmten Löcher der Wände dringen wird, begebe ich mich abermals in den Keller, die neue Wasserpumpe erledigt ihr Werk, der Klappstuhl für Unterbrechungen ist bereitgestellt.

See Also

Bobrowskis Lyrik beschreibt Naturgewalten, etwas steigt inmitten der Ruhe und Stille herauf:

[…] über den See, in der Dämmerung weiß, uferlos, 
über den See weht der Vogel, 
über dem Treibsand der Tiefe,
über der Strömung.

Bis Untergründiges herangetragen wird, bedrohliche Tierlaute:

Dämm’rung, dein Hasengeschrei, 
der Gefiederte hörte dich, sah
schwarz dich, Gestalt des Trunknen, 
über dem Ufer, die Schulter
gegen den Himmel

(„Abend der Fischerdörfer“, aus Schattenland, Ströme, S. 69)

Motive der Bedrohung flackern nicht nur in kreatürlicher Gestalt auf wie das „Hasengeschrei“ oder die „Silberassel der Angst“. Sie erscheinen in menschlicher, unpersönlicher Gestalt als „einer“, „der“, „eine Schulter“, als „Männer“ oder gar Stimmen „fernher Rufe schallen/ bärtiger Schiffer“.

Diesen Sommer lese ich Bobrowskis Lyrik anders, stoße auf Unausgesprochenes („Es wird nicht geredet“) und Ungesagtes „ein Wort, ungesagt/gehört in der Höhlung des Mundes“.

Mir fallen unzählige Leerstellen, die Bobrowskis Sprachstil ausmachen, Ellipsen, Gesprächsfetzen, Aufzählungen, die zahlreichen Bindestriche, die den Lesefluss unterbrechen, ins Auge. Was geht hier vor? Ein Ausbruch der Gewalt, der stattfinden wird oder bereits stattgefunden hat? Wer fällt ihr zum Opfer? Die Landschaft, Mensch, Tier?

Unter anderen politischen Vorzeichen werden derzeit Gewalt und Verbrechen verübt in einer Landschaft, die Bobrowski einst als „sein“ Sarmatien beschwor. Naturgewalten werden bewusst seitens des Angreifers Russland gegen die Ukraine eingesetzt, um durch Fluten und Überschwemmung, Leid und Tod zu bringen. Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms wurden ganze Landstriche und Dörfer überflutet, eine humanitäre und ökologische Katastrophe ausgelöst.

Anders lese ich manche Details in Bobrowskis Biografie, zählt man alle Jahre zusammen, die er im Krieg verbrachte: zweijähriger Militärpflichtdienst ab 1937, 2. Weltkrieg ab 1939 bis zu den Jahren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Ende 1949 kehrte er, nach über einem Jahrzehnt, zu seiner damals schon in Friedrichshagen lebenden Familie zurück. In Zeiten unfassbarer Verbrechen entstanden Bobrowskis zutiefst menschliche Gedichte, er führt diese traumatischen Erlebnisse als den eigentlichen Auslöser seines Schreibens an: „Das ist einmal in meiner Herkunft gegeben. Ich stamme aus einer Gegend, in der die Deutschen mit ihren Nachbarn durcheinander und miteinander gelebt haben, an der früheren deutsch-litauischen Grenze. Ich habe einiges an Kenntnissen und an Erfahrungen mitbringen können für dieses Thema, und sonst ist die Wahl dieses Themas so etwas wie eine Kriegsverletzung. Ich bin als Soldat der Wehrmacht in der Sowjetunion gewesen. Ich habe dort das noch vor Augen geführt bekommen, was ich historisch von der Auseinandersetzung des Deutschen Ritterordens mit den Völkern im Osten und von der preußischen Ostpolitik aus der Geschichte wusste. Ich habe nur wegen dieses Themas angefangen zu schreiben.“ (1964, Gesammelte Werke, Bd. IV, 471)

III

Während meiner Schöpfaktivitäten werde ich mir angesichts dieser Fakten der Geringfügigkeit meiner eigenen Probleme bewusst. Ich weiß, sie werden ein Ende haben, bald, wenn die schlimmsten Schäden in den umliegenden Ortschaften des Burgenlandes beseitigt sind, wird der Spengler kommen, um das Haus zu reparieren.

Die Unwetter sind unterdessen abgeklungen, erschöpft höre ich von der Rückkehr des Sommers ins Burgenland. In den entstandenen Lacken genießen Wildvögel neue Möglichkeiten. Brombeerpflückend am Waldrand, höre ich den Pirol, der für mich längst kein exotischer Vogel mehr ist:

Nacht, lang verzweigt im Schweigen –
Zeit, entgleitender, bittrer
von Vers zu Vers während:
Kindheit –
Da hab ich den Pirol geliebt –


(„Kindheit“, aus: Sarmatische Zeit,  S. 13)

Dieser Beitrag erschien am 2. September 2023, am Todestag von Johannes Bobrowski (* 9. April 1917, † 2. September 1965).

Johannes Bobrowski: Sarmatische Zeit (1961), Schattenland Ströme (1962), Im Windgesträuch (1970)

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