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Trauer als Legitimation

Trauer als Legitimation

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Petra Ganglbauer liest Anja Utlers Es beginnt: Trauerrefrain


Wenn Anja Utler, die 2023 mit dem Ernst-Jandl-Preis ausgezeichnet wurde, in ihrem aktuellen Buch jedes Gedicht mit der Zeile „Es beginnt der Tag“ einleitet, dann impliziert diese Passage stets auch deren Gegenteil: das Gegenteil der Potenzialität nämlich, der Möglichkeiten, der optimistischen Sicht auf die Wirklichkeit. „Es beginnt der Tag / bevor der letzte endet.“, heißt es etwa. Und schließlich, am Ende des Zyklus: „Es beginnt.“

Einerseits sind dieser Eingangszeile immer wieder wechselnde Interpunktionszeichen nachgestellt, etwa Punkt, Komma, Kolon, oder aber nichts von alledem – ein Verfahren, welches sich auch nachhaltig inhaltlich manifestiert. Andererseits ist das, was dem in jeder Hinsicht unausweichlichen Beginn des Tages folgt, von einer fragilen Befindlichkeit, der viele Aspekte menschlicher Existenz und globaler Auswüchse inhärent sind.

Cover © Edition Korrespondenzen

Zugleich wird das Leben gewissermaßen in seine Bestandteile zerlegt, und es scheint, dass diese ihrerseits vor sich hin kümmern müssen.

Es beginnt der Tag, 
Der Tisch, zwei Stühle. Einen 
zerlege ich. Der 
andere merkt davon nichts.

Oder auch:

Es beginnt der Tag, 
Wasserkocher, der vibriert 
im Becken klirrt was 
Außenzähne aus Metall

Sinngebung in der Arbeit

Etwas Bedrohliches, eine Levitation der Vergänglichkeit liegt über allem, wovon die poetische Rede ist. Es mag verschiedenste Annäherungen an das Politische und das Private geben; Anja Utler wählt für ihren Zugang „209 vierzeilige Haikus“, wie sie selbst im den Haikus nachgestellten Essay anmerkt. In diesem überdenkt sie jenen Arbeitsbegriff, den sie bis zum 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel, für sich geltend machte. An Auftritte, beauftragte Textarbeit und Ähnliches war für die Autorin nach dem Gewaltakt nicht mehr zu denken. Vielmehr entstand, angeleitet und geführt von einer Trauer, die ihr substanziell bereits – jedoch aus anderem Anlass – vertraut war, ein neuer Arbeitsbegriff; einer, der nicht auf zeitnahe Verwertbarkeit des Entstandenen, jedoch ausgestattet mit einer „Sinnhaftigkeit“ den vorliegenden Trauerzyklus entstehen ließ.

Anja Utler analysiert ihr Verhältnis zum Trauern und zu den Opfern, sie nähert sich kritisch der Zerstörung und dem Krieg. Zugleich reflektiert sie ihr Sozialverhalten und jenes ihrer Mitmenschen seit dem Überfall auf die Ukraine. Sie spricht unausgesprochenes gegenseitiges Verständnis an und ebenso radikale Vorwürfe, die ihr mithin unterbreitet wurden. Sie tut dies analytisch, offen und ohne Umschweife.

„Mein Versuch zu schildern, wie Putins Krieg gegen die Ukraine in mir eine geistig-emotionale Krise ausgelöst hat, führte also immer wieder in kommunikative Sackgassen. Offensichtlich wurden beiderseits wunde Stellen berührt und wir zuckten zurück.“

Anja Utler zeichnet in ihren Gedichten formal behutsam und dennoch mit Scharfblick den Weg der Trauer nach, lässt diese sich äußern und weist ihr hierfür formal die bereits erwähnten Vierzeiler zu. Die Trauer ihrerseits wiederholt sich selbst mit dem wieder und wieder „beginnenden Tag“ und sucht sich Nischen, Bilder, Metaphern, um den ganzen Schmerz, also sich selbst in Worte fassen zu können. Was dabei entsteht, sind zum einen abstrakte Schnittstellen, zum anderen jedoch sehr konkrete Szenen, die plastisch den Prozess des Trauerns verkörpern.

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Cover Costa "hier"

Es beginnt der Tag, 
ausrasiert; in Verkantung 
kahl|Regal; baumlos
kommt das Licht, als Ebene

Körpernaher Seelenschmerz

Mit Fortschreiten des „Trauerrefrains“ gestalten sich die Bilder persönlicher, halten sich äußerst nah am lyrischen Ich und erfahren gegen Ende hin eine extreme Steigerung.

Es beginnt der Tag, 
wo ist der kluge Arzt jetzt 
mit Klemmen, Tupfern
all dem großen Bauchbesteck

Oder:

Es beginnt der Tag; 
kein Hirnbesteck, was Binde-
gewebskasten mir
zerlegt, ich restlos mir ver-

In ihrem Essay weist die Autorin gezielt darauf hin, dass man diese sehr persönlichen Passagen keinesfalls mit ihr identifizieren solle. Auch wenn eine achtsame und konzise Lektüre dies ohnehin ausklammern würde, lässt sich nicht leugnen, dass jene Stellen im Text, welche einen körperlichen Kontext durchqueren, noch näher, schärfer, zugleich jedoch verletzlicher und verletzender anmuten als die übrigen. Der Essay wiederum weist weit über diese Überlegungen hinaus. Er versteht sich als explizite und gleichermaßen konzise Analyse, die den Gedichten zur Seite gestellt wird. So entsteht eine interessante Zusammenschau aus beidem: Poesie und deren Reflexion.

Anja Utler legt den lyrischen Finger auf die Wunden, und das zu Recht. Nur so kann Bewusstheit im Umgang mit konkreten Anlässen geschaffen werden. Trauer-, Angst- und Schmerzäußerungen sind immer legitim, auch wenn sie auf subjektiven Empfindungen beruhen und graduell unterschiedlich sind. Sie sind maßgebliche Parameter eines Gewahrseins des Zustands der Welt.


Anja Utler: Es beginnt: Trauerrefrain. Edition Korrespondenzen, Wien 2023. 270 Seiten. Euro 24,00.

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