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Lächeln, rauchen, dichten

Lächeln, rauchen, dichten

Lukas Meschik liest Wisława Szymborskas Hundert Freuden
als Winterlektüre


Wisława Szymborska lächelt. Es ist unmöglich, eine Aufnahme von ihr zu finden, auf der sie nicht ihr sympathisches, ironisches Lächeln zeigt. Ich ersuche jeden, mir das nicht zu glauben und es flugs selbst nachzuprüfen. Sie lächelt sitzend und im Stehen, sie lächelt drinnen und draußen, sie lächelt mit und ohne Hut, sie lächelt direkt in die Kamera und in der Ferne einen Punkt fixierend, sehr friedlich lächelt sie beim Rauchen, was ihr großen Genuss bereitet haben muss. Sie lächelt, weil ihr alles klar ist, weil sie Dinge weiß, die wir nicht wissen; sie weiß, dass man alles nur tut, weil man es genauso gut auch lassen könnte, also tut man es. Sie lächelt, weil sie sich nicht zu ernst nimmt. Vielleicht lächelt sie auch, weil sie so gute Gedichte schreibt.

Szymborska, geboren 1923 in Prowent, gestorben 2012 in Krakau, ist eine der wichtigsten Vertreterinnen der polnischen Literatur und erhielt 1996 den Literaturnobelpreis.Ihr schmales Werk umfasst etwa dreihundertfünfzig Gedichte und wurde in vierzig Sprachen übersetzt.

Meine Winterlektüre war streng genommen eine Relektüre, den Sammelband Hundert Freuden mit ausgewählten Gedichten besitze ich seit etwa zehn Jahren und las ihn damals mit anhaltender Begeisterung. Seitdem verwende ich sporadisch das Adjektiv „hundertfreudig“ als kleine Hommage an und Anspielung auf Szymborska, sehe sie dabei hintergründig lächeln und einen Zug von ihrer Zigarette nehmen.

Foto © Lukas Meschik

Ausschlaggebend für mein erneutes Lesen war die Präsentation der von Marta Kijowska bei Schöffling veröffentlichten Biographie Nichts kommt zweimal vor in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur Anfang Dezember. Beschwingt von den aufschlussreichen Anekdoten und vorgetragenen Gedichten spazierte ich aus der Wiener Herrengasse nach Hause und griff nach dem Buch.

Von oben betrachtet

Ein toter Käfer liegt auf dem Feldweg,
drei Beinpaare sorgfältig auf dem Bauch gekreuzt.
Statt Todeswirrnis – Sauberkeit und Ordnung.
Das Grauen dieses Anblicks ist gemäßigt,
die Reichweite streng lokal von der Quecke zur Minze.
Die Trauer teilt sich nicht mit.
Der Himmel ist blau.
...

Szymborskas Lyrik kommt entspannt daher, ist aber hochpolitisch, die manchmal anzutreffende Heiterkeit verdeckt oft einen Abgrund. Wer ihr in die Falle tappt, stolpert und landet schmerzhaft auf der Nase. Mit welcher Lakonie sie etwa im späten Gedicht „Folter“ über Körper schreibt, die „essen, atmen und schlafen“ müssen, unter deren dünner Haut das Blut fließt, lässt einen – ganz Körper – den Atem anhalten. Das eher frühe Gedicht „Noch“ beginnt so: „In plombierten Waggons, bewacht / fahren Namen durch Land und Nacht“, es folgen Namen wie „Nathan“, „Isaak“ und „Sarah“, in Streiflichtern erleben wir mit niederschmetternder Hoffnungslosigkeit eine Todesfahrt.

Wie jede meisterliche Lyrik, wie jede welterschaffende Literatur, verhandelt sie das Allgemeine im Speziellen, trifft Kernaussagen über den Zustand der Gesellschaft und das Betragen ihrer Teilhaber, zeigt eine Grundhaltung gegenüber politischen Verwerfungen und verortet den Menschen als Einzelwesen unter Artgenossen, der damit hadert, Teil der Gemeinschaft zu sein, ohne sich in ihr aufgeben und auflösen zu wollen. Angereichert ist dieses Aushandeln mit mal schmerzhaften, mal hochkomischen Details.

Diese Lyrik ist existenziell, es geht ums Ganze, es geht ums „Leben, das Universum und den ganzen Rest“ (Douglas Adams), sie ist aber nicht existenzialistisch, also kein Posieren im schwarzen Rollkragenpullover, keine Welthaltung der besserwisserischen Beantwortung, sondern ein gelassenes Aufzählen der Fragen. Wenn Szymborska will, dann verwandelt sie sich zur Geschichtenerzählerin, die in wenigen Zeilen eine greifbare Figur samt angerissenem Plot heraufbeschwört, die kürzestmöglichen Kurzgeschichten in Gedichtform.

Heimkehr

Er kam zurück. Sagte nichts.
Klar, dass er Ärger hatte.
Legte sich hin in Kleidern.
Verbarg den Kopf in der Decke.
Zog seine Knie an.
Er ist etwa vierzig, doch nicht in diesem Moment.
Er ist – aber nur soviel wie damals im Mutterleib,
hinter den sieben Häuten, im schützenden Dunkel.
Morgen wird er den Vortrag halten über Homöostase
in der metagalaktischen Kosmonautik.
Vorläufig liegt er zusammengerollt
und schläft.

Auffallend ist, dass Szymborska Beistriche und Punkte setzt, diese Lyrik ließe sich also auch in Prosa übersetzen, das hieße jedoch, ihr die Freiheit und den Rhythmus zu nehmen. Sie ist dabei eine Meisterin der einzelnen Zeile mit aphoristischer Wucht, Hundert Freuden quillt über vor zitierbaren Sätzen, die auch herausgelöst aus dem Gedichtzusammenhang funktionieren. „Ich bin zu nah, als daß er von mir träumte.“ Damit ist doch alles über die Gezeiten des Verliebtseins gesagt, die tiefe Wahrheit ausgesprochen, dass nur Distanz das Aufkommen von Sehnsucht ermöglicht. Das Gedicht „Angefangene Erzählung“ beginnt so: „Zur Geburt eines Kindes / ist die Welt nie fertig.“ Das wäre schon Gedicht genug, obwohl Szymborska dann gekonnt fortsetzt.

Die Biographie selbst habe ich noch nicht gelesen, sie lediglich einer Schreibkollegin zum Geburtstag geschenkt. Mich selbst allerdings habe ich beschenkt mit dem eben bei Suhrkamp erschienenen Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln. Anregungen für angehende Literaten, das las ich in einem Rutsch auf einer winterlichen Zugfahrt nach Berlin.

See Also

Foto © Lukas Meschik

Szymborska arbeitete jahrelang für die polnische Wochenzeitschrift „Literarisches Leben“, beantwortete eingehende Manuskripte und kommentierte sie in ihrer Kolumne „Literarischer Briefkasten“. Hier zeigt Szymborska, dass sie so richtig fies sein kann, und trotzdem bleibt es eine ganz liebevolle Boshaftigkeit, mit der sie selbsternannten Literaturgöttern in ganz knappen Worten den Wind aus den Segeln nimmt. Das überschwängliche Bekenntnis „Ich lechze, Dichterin zu sein!“ beantwortet sie mit einem garstigen „In diesem Fall stöhnen wir, Redakteure zu sein.“ Ihr reichen oft einzelne Sätze, die Sache auf den Punkt zu bringen: „Versuchen Sie vielleicht, in Prosa zu lieben.“ Dieser Band sei jedem ans Herz gelegt, der selbst schreibt oder mit dem Gedanken spielt, damit anzufangen. Glücklich, wer dem harten Urteil einer Wisława Szymborska entgeht! Hundertfreudig.

Hundert Freuden ist chronologisch geordnet, allerdings umgekehrt chronologisch, was mir meiner Erinnerung nach bei einer derartigen Auswahl noch nie untergekommen ist. Beginnend mit Gedichten aus „Kinder der Zeit“ von 1986 nimmt der Band uns vergangenheitswärts mit auf eine Reise durch ein Dichterinnenlebens bis zurück ins Jahr 1945 zu zwei Texten aus einem unveröffentlichten Buch. Hier das allerletzte Gedicht, jedenfalls das allerletzte im Buch, gleichzeitig das früheste im Werk von Szymborska.

Aus dem Kino kommend

Geträumtes schwirrte auf weißem Tuch.
Zwei Stunden im Mondgeflimmer.
Es gab eine Liebe, schmachtend genug,
und glückliche Heimkehr für immer.

Hier draußen aber ist’s blau und fahl.
Gesicht und Text sind grauer.
Ein Partisan besingt seine Qual,
ein Mädchen spielt ihre (sic!) Trauer.

Ich komm’ zurück in die wahre Welt,
voll Schicksal, dunkel, verstrickt – 
zu euch, einarmiger Junge am Zelt
und Mädchen mit müßigem Blick.

Wisława Szymborska: Hundert Freuden, Gedichte, Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius, Suhrkamp 1986, Euro 13.-

Wisława Szymborska: Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln. Anregungen für angehende Literaten, Suhrkamp 2023, Euro 13.-

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