Jelena Dabic liest Michael Stavaričs spüren
Naturschilderungen, allerhand Künstliches, Wehmut ob des heranschleichenden Alters, Beklagen von abgenutzten Beziehungen und handfeste Zivilisationskritik: Mit spüren legt Michael Stavarič seinen zweiten Gedichtband bei Limbus vor.
Überraschend melodisch, geradezu wohlklingend liest sich der neue Gedichtzyklus des Autors. Dies gilt für fast alle Texte des Bandes, die übrigens alle mit den Worten „ich spüre“ beginnen. Tatsächlich hat man es hier mit einem nicht nur spürenden, sondern ebenso (an)klagenden, registrierenden, aufzählenden, mit den Worten spielenden, mürrischen, nostalgischen, resignierenden, kritischen und pessimistischen lyrischen Ich zu tun. Dieses stets namenlose Ich, das – was Zeit und Ort seines Beobachtens betrifft – recht nah am Autor angelegt sein dürfte, gibt unermüdlich und auf nicht gerade freundliche Art wieder, was es an und in sich sowie um sich herum zu sehen bekommt. Oder, was ihm in seiner assoziativen Denkweise so alles in den Sinn kommt, wenn es sich eben immer und immer wieder mit sich und seiner Umgebung auseinandersetzt.
Feindseliger Beobachter
Dabei gibt Stavarič sehr treffend die Orientierungslosigkeit eines modernen Subjekts wieder. Die eigene Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit werden hier sehr akribisch verzeichnet; gleichzeitig wird spöttisch an vergangene wie aktuelle Trends und Fragestellungen erinnert (saurer Regen, heiße Sommer, Bärlauchpflücken etc.). In einem gleichmäßig fließenden Strom lässt hier ein nicht selten feindseliger Beobachter an so gut wie nichts ein gutes Haar, oder er findet genug Dinge, Zustände, Erinnerungen und Tatsachen, die nur bedauert werden können. Das kann etwa so klingen:
spüre wie sich der Fernseher gegen die x-te Wiederholung von RESIDENT EVIL oder irgendeinen SOKO-Scheißdreck stemmt spüre den erhöhten Stresspegel der Vorrang-Geben-Verkehrszeichen was allerdings in ihrer Natur liegt und frage mich ob AUFRECHT überhaupt etwas mit AUFRICHTIG gemein hat

Zu allerhand Begriffen der Populärkultur kommen Sprachbetrachtungen und -spielereien dazu – und dies nicht zu knapp. Es ist die Eigenart des hier auftretenden, reichlich grantigen Zeitgenossen, Wörter auf Herz und Nieren zu prüfen, aber auch, sie miteinander zu vergleichen und zu kombinieren.
Cover © Limbus Lyrik
Da ist es nicht weit vom „Botulismus“ (Fleischvergiftung) bis zum „Bolschewismus“, „Vermont“ kann man gut und gerne mit Wermut verwechseln, und auch längst vergessene Hollywood-Stars der 1980er Jahre, Bo Derek etwa, lassen sich zunächst einmal als seltsame Wörter genauer betrachten und für allerlei Assoziationen gebrauchen. Zu einer weiteren Spielerei des Autors gehört das gelegentliche Beleben von Gegenständen („Distanzlosigkeit von Rasierklingen“, „Abschiedsbriefe die Mikroben / einander zustellen lassen“), das ab einer gewissen Frequenz jedoch zu sehr ins Geblödel abgleitet.
Nostalgie und Rollenwechsel
Interessanterweise kontrastiert mit all dem hyperaktiven Assoziieren und Kritisieren eine gewisse Wehmut oder gar Nostalgie, wenn es um Blitzlichter auf die eigene Kindheit und Jugend geht. Das können völlig unschuldige Erinnerungen an die Art sein, wie Kinder am Tisch zu sitzen pflegen, oder eine lapidare Bemerkung wie: „weil wir damals jung / und angetrunken waren“. In klarem Kontrast dazu steht die dargestellte, offene gegenseitige Verachtung in festgefahrenen Beziehungen im mittleren oder gar höheren Alter. Mit dieser Beobachtung geht eine allgemeine Trauer angesichts des eigenen Älterwerdens einher, die als wiederkehrendes Motiv an mehreren Stellen im Text auftaucht. Veränderung körperlicher wie psychischer Natur („spüre die Knochen knirschen“) sind allesamt zum Schlechteren hin erfolgt. Das Jungsein ist unwiederbringlich verloren:
an eine Zeit als ich noch ohne Gelenksschmerzen jemanden hoch- und mit ihm abheben konnte als ich das Wort VERS-spannung noch völlig anders buchstabierte
Nachdrücklich und mehrmals werden Abnutzungserscheinungen in längeren Partnerbeziehungen beklagt. Und doch taucht in erstaunlich vielen Gedichten ganz selbstverständlich ein Du, gemeinsam mit einem Ich, auf. Dass man doch auf eine gewisse Art zusammengehört, dieses kostbare Gefühl wird an ganz wenigen Stellen klar; hier begegnet man selten, aber doch positiven Emotionen. Manchmal entsteht gar das Gefühl, dass das lyrische Ich dies bei all seinem Zorn und Ärger alles schreibt, aufzählt, in Grund und Boden kritisiert oder aber wehmütig besingt, um es diesem einen Du mitzuteilen. „ich spüre wie ich dir schreiben / möchte“ heißt es da zwischendurch. Eine andere – und wahrscheinlich noch wichtigere – Funktion, die das mit Gezeter abwechselnde Beobachten erfüllt, ist die Selbstvergewisserung des lyrischen Subjekts.
Nicht zufällig endet der Band, abgesehen von einem nicht unbedingt notwendigen „Bonustrack“, mit einem in Großbuchstaben geradezu hinausgeschrienen „YES I AM / TONIGHT“ – nachdem dieses Ich eine endlos scheinende Reihe von Rollen übernommen hat, jene von Menschen, Pflanzen, Tieren, Dingen, Naturerscheinungen, Jahreszeiten, physikalischen Größen, abstrakten Begriffen und vielem mehr. Und all dem mangelt es überraschenderweise keineswegs an poetischen Bildern, melodischem Klang und inspirierenden Gedanken und Schlüssen!
Insgesamt arbeiten die Gedichte von spüren auf eine vergnügliche Art, mit einer absolut wilden Mischung aus allen möglichen Symbolen, Gegenständen, Themen, Motiven und Bildern und illustrieren damit die Ratlosigkeit des Gegenwartsmenschen in einer Informationsflut sehr treffend. Die Kenner von Stavaričs Stil, der sich schon in seinen letzten Texten bemerkbar gemacht hat, werden auch in diesem Band auf ihre Kosten kommen: kritisch-Negatives kann zuweilen in einem durchaus poetischen Gewand daherkommen!
Michael Stavarič: spüren. Limbus Verlag, Innsbruck – Wien 2025. 96 Seiten. Euro 15,–